Der aufhaltsame Aufstieg der Einfältigen
Ich bin in Genf geboren als Sohn einer Aargauerin und eines Tessiners, die sich kurz vor meiner Geburt hier angesiedelt hatten. Die Muttersprache meiner Mutter war deutsch, meines Vaters italienisch, genauer gesagt : Aargauer Dialekt und Tessiner Mundart. Beide waren dreisprachig. Zu Hause haben wir ausschliesslich französisch gesprochen. In diesen Nachkriegsjahren waren in Genf italienisch und deutsch verpönt, und wir, mein Bruder und ich, wehrten uns gegen die Versuche meiner Mutter, uns in ihre Muttersprache einzuweihen.
Irgendwie verstand ich doch ihre und seine Sprachen. In mir hatte sich das Vorurteil eingebürgert, dass Sprachen kein Problem ist. Dass ich durch ihre Kenntnis einen Schatz in mir barg, der mich mit meiner viersprachigen Heimat verband, leuchtete mir lange nicht ein. Die Schweiz war für mich eine Abstraktion, eine Papier-Sache : Brusino-Arsizio steht als Heimatort in meinem Ausweis. Von Dottikon ist keine Spur.
Als junger Intellektueller schwebte ich in höheren Sphären. Ich war heimatlos, nirgends verankert. Es hat lange gebraucht, bis ich mich als Schweizer fühlte, darüber froh sein durfte. Diese Einsicht war nicht ideologischer Art, hatte nichts mit Nationalismus zu tun, sondern mit Emotionen, Bildern und den Klängen der Muttersprachen meiner Eltern aus meiner Kindheit. Dottikon, Brusino-Arsizio und les Eaux-Vives, bilden ein Dreieck, das meine mehrsprachige Identität einfasst.
Mit zwölf kam ich aufs Gymnasium, das altehrwürdige Collège Calvin. Meine früheren Spielkameraden sah ich kaum noch ; sie besuchten andere Schulen, wurden früh berufstätig. Unsere Wege gingen auseinander. Es kam so, dass ich mich mit einer Gruppe deutscher Studenten befreundete, im Nu ihre Sprache lernte, die ich nun fliessend sprach, die bald die Rolle einer zweiten Muttersprache einnahm, in der ich neuerfahrene Gefühle wie Liebe ausdrücken lernte. Im Collège Calvin war ich ein Fremdling, eine Art Schwarzfahrer, meiner Herkunft wegen. Viel später erfuhr ich, dass meine Mutter in Ingenbohl als Arbeitertochter unter Prinzessinnen im Werden dasselbe erlebt hatte. Doch in den letzten zwei Jahren im Collège Calvin entdeckte ich mit Begeisterung Goethe und Schiller, und eine Fülle zeitgenössischer deutscher Autoren. Camus, Diderot, auch. Mein Eifer wurde von Lehrern anerkannt und gefördert. Ich wollte Philosophie studieren, entschied mich für deutsch und französisch als zweites und drittes Fach. Und wurde Deutsch- Französisch- und Philosophielehrer.
Unser bester Trumpf
Mein Interesse für die Schweizer Geschichte wurde durch die Auseinandersetzung um den Unterricht der Fremdsprachen erweckt. Als Präsident der Kommission für Moderne Sprachen des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrer verfolgte ich die Debatten im Nationalrat um die Schaffung eines Sprachengesetzes, die sich ab Jahrtausendwende auf sieben Jahre verzögerten. Die Meinungen gingen immer heftiger auseinander zwischen Anhängern des Ist-Zustands, d.h. des Vorrangs der Nationalsprachen, und Verfechtern des Englischen als Einstiegsfremdsprache. Zusammenfassend ironisierte die Bündnerin Brigitta Gadient kurz und bündig : „Unser Land beruht auf dem Grundsatz der Vielfalt in der Einheit, und Vielfalt ist immer besser als Einfalt”. Der angesagte Kampf von den Vielfältigen gegen die Einfältigen wurde an diesem 21. Juni 2007 zugunsten der Vielfältigen entschieden und das sogenannte Sprachengesetz[1] mit seinem Artikel 15, der der zweiten Nationalsprache die Priorität als Einstiegssprache gewährte, mit 87 gegen 68 Stimmen verabschiedet. Die Bundesversammlung sah es drei Monate später anders. Es wurden zwei Frühsprachen (die erste mit 8, die zweite mit 10 Jahren) als „Kompromisslösung“ eingeführt mit Freiwahl der Kantone, was die Einstiegssprache anbelangt : Englisch oder die zweite Nationalsprache. Alle Deutschschweizer Kantone fangen heute mit Englisch an. Das war also des Pudels Kern.
Unser Land beruht auf dem Grundsatz der Vielfalt in der Einheit, und Vielfalt ist immer besser als Einfalt. (Brigitta Gadient)
Die sprachliche Vielfalt ist einer der Grundpfeiler, auf denen unsere Identität und unsere Kultur beruht, eine grosse Chance. Doch ist die Mehrsprachigkeit nicht selbstverständlich da : sie muss gepflegt und gefördert werden. Die Viersprachigkeit der Schweiz hat eine Geschichte und einen Status. 1798 hat Napoleon den damaligen drei Sprachgemeinschaften die Rechtsgleichheit zuerkannt. Sie wurde 1814 – in einer Zeit, die unserer Epoche nach 1989 ziemlich ähnlich sieht - von der Restauration abgeschafft. 1848 wurde sie durch die Bundesverfassung wieder hergestellt. 1938 schließlich kam eine vierte rätoromanische Sprache mit einem besonderen Status hinzu.
Die kulturelle und sprachliche Vielfalt, die in der Bundesverfassung (Art. 2 und 69) verankert ist, ist unser bester Trumpf, machte aus der Schweiz den modernsten Staat Europas und sorgt seit 166 Jahren für die Einheit und den inneren Frieden unseres Landes. Die Folgen der Abschaffung in der Tat dieses Status sind nicht absehbar.